Aufarbeitung staatlicher Gewalt
Die Aufarbeitung des gewaltförmigen Konflikts zwischen baskischen Militanten und dem spanischen Staat hat weiterhin Schlagseite. Opfer von ETA und anderen Gruppen sprechen von einem einseitigem Terror, den sie erlitten und wollen nichts von der Gewalt der staatlichen Seite wissen. Im Baskenland gibt es eine andere Sichtweise: die Regional-Regierung anerkennt Opfer von Folter, extralegalen Hinrichtungen, Entführungen an, die durch spanische Sicherheitskräfte verursacht wurden, teilweise systematisch.
Aufarbeitung des spanisch-baskischen Konflikts: "Jetzt haben wir eine rechtliche Grundlage, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen, denn mit der Wahrheit entsteht die Zukunft". Jon Mirena Landa war Direktor für Menschenrechte in der Ibarretxe-Regierung und schrieb das Buch: “Unsichtbare Opfer“.
Nachdem er sich zwanzig Jahre lang akademisch und praktisch mit dem Thema beschäftigte (unter anderem als Direktor für Menschenrechte in der baskischen Regierung von Juan José Ibarretxe), hat Jon Mirena Landa seine Vorstellungen in dem Buch "Unsichtbare Opfer" neu formuliert. Ein Titel, der bereits viel über die aktuelle Situation aussagt, was die Aufarbeitung des militarisierten Konflikts im Baskenland anbelangt: die Gewalt von ETA wird mit Argusaugen betrachtet, die staatliche Gewalt unter den Teppich gekehrt. Es ist ein Blick in die Vergangenheit, für den Autoren aber vor allem ein Blick in die Zukunft. Ein Interview mit Jon Mirena Landa. (1)
Ihr Buch ist eine Sammlung von Themen, die vom Umgang mit politischer Gewalt und den Opfern handeln. Sie haben beschlossen, sich auf die "unsichtbaren Opfer" zu konzentrieren, wie der Titel schon sagt. Was sind die Gründe dafür?
In der Tat gibt es eine Gruppe von Opfern, die Menschenrechts-Verletzungen erlitten haben, und die nicht als Opfer anerkannt werden. Ich mache meine Arbeit ohne politischen Anspruch, ich arbeite nicht mit einer Tagesordnung. Ich gehe einfach davon aus, dass es Opfer gibt, deren Situation verbessert werden muss, darauf muss hingewiesen werden. Und es gibt einige, die bisher regelrecht unsichtbar geblieben sind. Das sind diejenigen, die unter Menschenrechts-Verletzungen durch den Staat ab 1978 (nach der Franco-Diktatur) zu leiden hatten. Diese Verbrechen sind bei uns im Baskenland mehr bekannt, doch südlich des Ebro-Flusses (wo der spanische Staat beginnt) sind sie ziemlich unbekannt. Vielleicht ist man im Süden der Meinung, dass es in der Übergangszeit (Transition, von 1975 bis 1979) von Seiten der Sicherheitskräfte einige Exzesse gab. Aber die meisten haben zum Beispiel keinerlei Vorstellung davon, was Folter bedeutete.
Gilt das nur für die Region südlich des Ebro, oder auch nördlich des Aturri (gemeint ist ein Fluss nördlich des französischen Baskenlandes)? Wir haben gesehen, wie das Europäische Parlament eine Entschließung über die "unaufgeklärten Verbrechen" von ETA verabschiedet hat, aber von dieser Form staatliche Gewalt nichts hören will?
Heutzutage werden die Folgen des Konflikts kaum noch auf staatlicher Ebene ausgetragen. Im Bereich des Strafrechts in Europa bestehen die Debatten aus Gedankenketten, die Beiträge werden niedergeschrieben und andere kommen später mit anderen Gesichtspunkten ... Mit dem Buch wollte ich zeigen, dass die Opferpolitik oder die Terrorismus-Bekämpfung kein Siegeszug im Sinne von “wir haben alles gut gemacht“ war. Es gibt viele Ereignisse, die offenbar nicht aufgearbeitet werden sollen …
Diese Gewalt wurde von staatlichen Akteuren ausgeübt, aber die Anerkennung und Wiedergutmachung geht von regionalen Institutionen (wie der baskischen Regierung) aus. Ist das kein Widerspruch?
Hier im Baskenland (Euskadi) hat es eine eigene Dynamik gegeben. Auf staatlicher Ebene gab es für die Opfer der ETA im Allgemeinen eine Strafjustiz und auch eine Politik der Begleitung, wenn auch erst spät, ab Ende der 1990er Jahre. Andere, zum Beispiel die Opfer von Krieg und Franquismus, waren noch deutlich später an der Reihe. Für sie gab es nie eine juristische Aufarbeitung, denn für die faschistischen Täter gab es (1977) eine Amnestie, ein Auslöschen der strafrechtlichen Verantwortung. Das kommt einem Attentat auf die Erinnerung gleich.
Der Unterschied im Baskenland besteht darin, dass die politische Gewalt 1978 nicht aufhörte und zudem an einem Ort stattfand, der so klein ist, dass über die offiziellen Versionen hinaus viele in der Bevölkerung wussten, was wirklich passiert, wenn auch nicht im Detail. Das bedeutet, dass hier ausreichender juristischer Druck vorliegt. Auch wenn die Strafjustiz ihre Aufgabe nicht erfüllt hat, wurden dennoch Instrumente entwickelt, die eine Wiedergutmachung und auch ein Fenster zur Wahrheit möglich machten. Wahrheit in Anführungsstrichen, denn Wahrheit ist ein großes Wort. Alles mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Nun gibt es wenigstens eine Neuheit: eine verfassungsrechtliche Grundlage, die sowohl das baskische wie auch das navarrische Gesetz abdeckt. Eine Grundlage, die auch von Menschenrechts-Verletzungen durch Staatsbedienstete oder Gleichgestellten spricht. Die Zukunft wird zeigen, wie weit dieser Weg und das Gesetz der Demokratischen Erinnerung reichen werden.
(Im Jahr 2007 verabschiedete die Zapatero-Regierung unter dem Druck von links das Gesetz der Historischen Erinnerung, völlig unzureichend für die Aufarbeitung des Franquismus und sehr zum Missfallen der Memoria-Bewegung. Die Sanchez-Podemos-Regierung legte das Gesetz zur Demokratischen Erinnerung nach, das deutlich weiter geht, mehr juristische Möglichkeiten eröffnet, jedoch die Amnestie für faschistische Verbrechen von 1977 weiterhin unangetastet lässt).
Im Fall des Baskenlandes gab es Verfahrens-Missbrauch, exzessive Verhaftungen, Massen-Prozesse mit Einschränkung der Grundrechte, mit Verurteilungen trotz ungenügender Beweislast, mit provisorischen Zeitungsschließungen, die einem Todesurteil gleichkamen. Die Zeit vergeht, und vielleicht gibt es jetzt mehr Motivation und demokratische Reife, um nachzudenken und zu differenzieren: "Das war richtig" und "Das war falsch".
In Ihrem Buch weisen Sie auf das Potenzial des staatlichen Gesetzes der Demokratischen Erinnerung hin. Was genau ist darunter zu verstehen?
Das Gesetz der Demokratischen Erinnerung bietet mehr Möglichkeiten, da es in die Zuständigkeit des Staates fällt, eine extra Staatsanwaltschaft wurde geschaffen, es gibt Mechanismen zur Wahrheitsfindung, wie Berichte und Zeugenaussagen, die als Beweismittel dienen können.
Denken Sie, dass der Fall Mikel Zabalza zum Beispiel, der im Baskenland bereits als Staatsterror anerkannt wurde, im Rahmen dieses staatlichen Gesetzes behandelt werden könnte? (2)
Es gibt Grenzen, denn das Gesetz der Demokratischen Erinnerung umfasst die Zeit bis 1983 (vor dem Folter-Tod Zabalzas 1985). Aber ich sehe auch einen qualitativen Sprung gegenüber dem vorherigen Gesetz zur Historischen Erinnerung. Darin wurde zwar das Modell des Vergessens in Frage gestellt, aber die Menschenrechts-Normen wurden nicht mit ausreichender Deutlichkeit aufgegriffen. Mit Hilfe jenes Gesetzes wurde nach Verschwundenen (aus dem Krieg) gesucht, es gab Entschädigungen, aber alles nach einem individualisierten Ansatz, bei dem der Staat nur hilft (aber nicht selbst aktiv wird). Das Gesetz der Demokratischen Erinnerung hingegen geht davon aus, dass die Verfolgung der Menschenrechts-Verletzungen eine Pflicht der öffentlichen Hand ist. Das scheint mir ein positives Novum zu sein. Ich weiß zwar nicht, wie dieses Potenzial genutzt werden soll. Es erscheint mir logisch, dass auf anderer (regionaler) Ebene bereits mit einem juristischem Gütesiegel geleistete Arbeit auch im Staat anerkannt werden muss.
Zurück nach Euskal Herria: In einer Zeitungs-Kolumne haben Sie sich sehr kritisch bzw. selbstkritisch über den Prozess der Anerkennung von Opfern staatlicher Gewalt in der Autonomen Gemeinschaft Baskenland (Euskadi) geäußert. Sie gingen sogar so weit zu sagen, dass die Opfer auf dem Weg verloren gegangen seien.
Zunächst möchte ich klarstellen, dass ich kein Sprecher der Kommission bin, ich spreche nicht in ihrem Namen. Aber generell gehe ich davon aus, dass wir die Opfer anhören müssen. Denn sie haben gelitten, wir müssen Verantwortung übernehmen. Der Bewertungs-Ausschuss macht Fortschritte, aber es wäre gut, wenn es nicht zu lange dauern würde und wenn zeitlich und formal professionell gearbeitet wird. Es stimmt, dass es zunächst eine juristische Anfechtung und dann eine böswillige Aktion einer rechtsextremen Gruppe gab, die eine Verleumdungs-Kampagne begann, um viele Petitionen zu verwerfen.
All dies führte objektiv zu einigen Schwierigkeiten, aber wir müssen wissen, dass wir uns das Vertrauen der Opfer erst verdienen müssen. Die Parlamente waren mutig mit diesen Gesetzen und haben einen Weg eingeschlagen, der Zukunft haben kann. Wir haben eine rechtliche Grundlage, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen, und mit der Wahrheit entsteht die Zukunft. Denn wenn die Menschen über Wissen verfügen, sind sie vernünftig.
Ist es nicht bezeichnend, dass es schlüssige Berichte über Folterungen gibt, wie die des Baskischen Instituts für Kriminologie (IVAC), und dass von der Gegenseite niemand sie in Frage stellt? Stattdessen herrscht tiefes Schweigen, niemand von der Guardia Civil hat sich gemeldet, um zu sagen, dass Paco Etxeberria lügt. (3)
Diese Berichte sind nicht von irgendjemand, sie haben eine akademische Grundlage und basieren auf einer wissenschaftlichen Methodik, sie kommen von einer offiziellen Kommission (einer Regierung, einem Parlament ...). Was ich bemerkenswert finde, ist, dass es keine Reaktion gibt, obwohl die Aussagen schwerwiegend sind. Vielleicht ist hier auch etwas Arbeit im Hintergrund gefragt.
Es geht nicht darum, mit diesen Berichten politisches Aufheben zu provozieren. Doch wenn es Folter gab und sie so schwerwiegend war, dann müssen Maßnahmen ergriffen werden: Zum Beispiel die Eröffnung von Strafverfahren, aber auch Garantien der Nichtwiederholung, die Verbesserung der Ausbildung der Polizei, öffentliche Anerkennung des Geschehenen. Wenn es innerhalb eines demokratischen Staates eine terroristische Organisation gibt, die mordet, ist das inakzeptabel. Die Antiterror-Politik muss demokratisch sein. Warum also werden diese Exzesse nicht korrigiert?
Könnten dieses Schweigen und die fehlende Reaktion nicht auch damit zu tun haben, dass all diese Verbrechen allgemein bekannt waren?
Das ist Spekulation. Hier in Euskadi gab es eine Dynamik der fortgesetzten Gewalt, und je weiter man sich von unserer Region Baskenland-Navarra entfernt, umso schwieriger ist die Wahrnehmung. Es mag gutgläubige Menschen im Staat geben, die das Ausmaß dessen, was hier geschehen ist, nicht verstehen und sich nicht bewusst sind, dass der Polizeiterror (GAL-Morde) nicht 1983 oder 1987 zu Ende war.
Nicht alle Aktionen zur Terrorismus-Bekämpfung waren Menschenrechts-Verletzungen, aber vieles ging Hand in Hand. Solange es keine Aufarbeitung gibt, wird es immer Leute geben, die von den Verletzungen überzeugt sind und solche, die vom Gegenteil ausgehen. Das internationale Menschenrechts-Abkommen mit seinen Mechanismen ist kein grober Entwurf wie die Politik, vielmehr ist es die Basis für Kommissionen, die Erstellung von Berichten, auch für Forschungsarbeit an der Basis … Ich denke, dass diese Arbeit, wenn sie gut erklärt wird, eine andere, wachsamere Haltung hervorrufen und eine Reihe von Lichtquellen eröffnen könnte. In einer Demokratie muss es Polizeikräfte geben, aber wenn sie nicht den Gesetzen entsprechend handeln, muss das bekannt gemacht werden.
Hier fand eine starke politische Polarisierung statt, und die politische Engstirnigkeit macht entweder blind oder sie öffnet den Menschen die Augen. Alle haben auf ihre eigenen Wunden geschaut, nur wenige waren in der Lage, alle Verletzungen zu sehen. Jetzt sind wir dazu besser in der Lage.
Das Buch spricht von der Gefängnispolitik als einer Anhäufung von Exzessen. An der Spitze der Pyramide steht vielleicht die Verschärfung des Strafgesetzes 7/2003. Wie kann dieses Problem gelöst werden?
In der Strafrechts-Theorie gibt es einen Konsens. Nahezu 100% der Strafrechtler im spanischen Staat üben scharfe Kritik am 7/2003-Strafgesetz, von einem Ende der Halbinsel bis zum anderen, weil es das Strafvollzugs-System verändert hat, das ursprünglich auf Wiedereingliederung basiert, was Behandlung, Einstufung und Progression der Gefangenen impliziert. Der Umgang wurde so stark vergiftet, dass die Progression ausgesetzt wurde: Es wurden Bedingungen für den dritten Grad (Freigänger) oder die Bewährung eingeführt, die nur sehr schwer zu erreichen sind. Ein fortschrittliches Strafvollzugssystem wurde in eine Art von Hindernislauf verwandelt, der weit hinter demokratische Standards zurückfällt.
Ich bin überzeugt, dass die Richter die Möglichkeit haben, dieses Gesetz aufzuweichen. Wir bräuchten nicht einmal eine Gesetzesänderung, sondern nur eine andere Einstellung. Und zwar ohne die Rechte der Opfer zu beschneiden, denn es handelt sich nicht um ein Nullsummen-Spiel, bei dem man dem einen gibt, was man dem anderen wegnimmt. Solche konfrontativen Spiele vergiften das Zusammenleben.
Ist die wiederherstellende Gerechtigkeit, von der die baskische Regierung spricht, der richtige Weg?
Es ist eine gute Botschaft, dass wiederherstellende Gerechtigkeit gefordert wird und dass die Institutionen daran arbeiten. Das kann sich positiv auf die Opfer auswirken, aber auch auf diejenigen, die die Verbrechen begangen haben. Und auf die Gesellschaft selbst, da der Konflikt nicht vertikal, sondern eher horizontal gelöst wird. Die Verantwortung verschwindet nicht, aber mit der opferorientierten Justiz hat sie humanere Auswirkungen. Dieses humanisierende Potenzial sollte genutzt werden.
ANMERKUNGEN:
(1) “Ahora tenemos suelo jurídico para hacer verdad, y con la verdad emerge el futuro” (Jetzt haben wir eine juristische Basis, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen, und mit der Wahrheit entsteht die Zukunft), Gara 2023-03-20 (LINK)
(2) “Folter gegen Basken – Ion Arretxe, Mikel Zabalza“, Baskultur.Info, 2021-03-10 (LINK)
(3) Paco Etxeberria ist Anthropologe und Forensiker, er arbeitet für die Wissenschaftliche Gemeinschaft Aranzadi, die Ausgrabungen von Leichen aus der Kriegszeit macht. Daneben ist er an kriminologischen Studien beteiligt, unter anderem zu Folter in Navarra und im Baskenland.
ABBILDUNGEN:
(1) Opfer Polizei-Gewalt (publico)
(2) Gegen Straffreiheit (ecorepublicano)
(3) Autor Landa (naiz)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-03-26)