Vom besonderen Wert der Kopien
Reproduktion hört sich an wie Kopie, Piraterei, Abklatsch, billig, Verstoß gegen Copyright, Plagiat oder Fälschung. Muss es aber gar nicht sein. Es ist vielmehr eine Art, Kunst ohne die Originale darzustellen. Schließlich können nicht alle nach Athen oder Berlin reisen, um sich den Pergamon-Altar live anzuschauen. Ein gutes Beispiel ist das 1927 eröffnete Reproduktions-Museum in Bilbao. Es zeigt klassische Skulpturen in Originalgröße und wird durch interessante Wechsel-Ausstellungen komplettiert.
Seit dem 16. Jahrhundert werden Werke der klassischen Kunst legal kopiert oder reproduziert. Im 19. Jahrhundert wurden Reproduktions-Museen eröffnet, die im Allgemeinen mit Universitäten und Akademien der Schönen Künste verbunden sind, um antike Kunst bekannt zu machen. Ein besonders interessantes Reproduktions-Museum ist in Bilbao zu finden.
Das 1927 gegründete Museum für Skulptur-Reproduktionen in Bilbao (bask: Bilboko Berreginen Museoa) ist eines der ältesten Museen der Hauptstadt Bizkaias. Ziel war von Beginn an, Kopien von klassischen Kunstwerken zusammen- und auszustellen. Zu den Werken, deren Originale in Museen wie dem Louvre, dem Berliner Pergamon-Museum, den Vatikanischen Museen oder dem British Museum stehen und die originalgetreu reproduziert wurden, gehören unter anderem der Parthenon-Fries,“Sklaven“ und“Moses“ von Michelangelo, die “Venus von Milo“, der “Sieg von Samothrake“, der “Laokoon und seine Kinder“, der “Apoxyomenos“, die “Diane von Gabies“ und der “Apollo von Belvedere“. (1) (2)
Vorgeschichte
Seit dem 16. Jahrhundert werden Werke der klassischen Kunst in der traditionellen Technik des Gips-Abgusses kopiert oder reproduziert. Frankreich und Italien waren zu Beginn die federführenden Länder der künstlerischen Reproduktion. Seit dem 19. Jahrhundert wurden nach und nach verschiedene Reproduktions-Museen eröffnet, die im Allgemeinen mit Universitäten und Akademien der Schönen Künste verbunden sind, mit dem Ziel, Kunstgeschichte auf praktische und dynamische Weise zu lehren und dem Publikum zu zeigen.
Eines der ersten Museen für künstlerische Reproduktionen wurde 1857 in Großbritannien eröffnet. Ziel der damaligen Regierungen in ihrem "kulturgetriebenen Eifer" war es, dem einfachen Volk die "Kultur der Menschheit" zu zeigen. Die Reproduktion von Kunstwerken war nicht nur nützlich zur Anschauung und zum Studium der Kunstwerke, sondern letztendlich auch dafür, um bis heute Zeugnis von vielen Werken zu haben, die während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erlebten die Reproduktions-Museen einen bedeutenden Niedergang, der erst in letzter Zeit mit der Modernisierung der Berliner Gießerei-Museen, dem Trocadero in Paris und dem Victoria & Albert Museum in London (und anderen) überwunden werden konnte.
Gründung und Beginn
Das Reproduktions-Museum von Bilbao wurde 1927 nach einer intensiven Kampagne zur Schaffung verschiedener Museums-Institutionen gegründet, nach einer Vorlaufzeit von fünf Jahren. Zu einer Zeit, als im übrigen Europa die Reproduktion künstlerischer Werke deutlich rückläufig war. Das Bilbao-Museum konzentrierte sich darauf, das kulturelle und künstlerische Angebot der Stadt zu ergänzen und die Ausbildung von Schülerinnen und Schülern in der Abteilung Bildende Kunst der Kunstgewerbe-Schule zu verbessern. Manuel Ramírez Escudero war einer der Hauptförderer des Museums und seit 1928 Vorsitzender des Kuratoriums des Museums, ein Amt, das er bis 1967 inne hatte.
Nach dem Vorschlag, den Ramírez Escudero 1922 dem baskischen Kulturrat vorlegte, wurde die Gründung des Museums am 1. Oktober 1927 genehmigt, nachdem der Provinzialrat und der Stadtrat von Bilbao dem Projekt zugestimmt hatten. Damit ist es eines der ältesten Museen in Bilbao. Dem Kuratorium gehörten illustre Persönlichkeiten aus der Welt der Kunst an.
Das Museum hatte im Laufe seiner Geschichte verschiedene Standorte. Zunächst befand es sich im Erdgeschoss einer Schule, später zog es in sanierte Räumlichkeiten in der Straße Conde Mirasol um, wo sich bis heute der administrative und didaktische Hauptsitz befindet. Seit ihrer Reform und Erweiterung im Jahr 2006, beherbergt die alte neugotische Kirche Corazón de María den Hauptsitz des Museums. Die Kirche im Herzen des Stadtteils San Francisco, war nach einem Entwurf des Architekten José María Basterra zwischen 1891 und 1894 erbaut worden.
Standort-Wechsel
Erster Sitz, von 1930 bis 1955 war die alte Schule in der Berastegi-Straße des Stadtzentrums. Der Architekt Manuel Maria Smith Ibarra sorgte vor der Eröffnung für einen entsprechenden Umbau des Gebäudes, die Dekorationen orientierten sich an den berühmten Gemälden der Basilika San Isidoro in León. Trotz der Erweiterungen der Räumlichkeiten sollte es nicht der endgültige Sitz des Museums bleiben.
Das Justiz-Ministerium des franquistischen Regimes entwickelte Mitte der 1950er Jahre den Plan, am Ort des Museums das neue Gerichtsgebäude zu errichten – dafür musste die Kunsteinrichtung verschwinden. Die Entscheidung war derart überstürzt, dass es noch keine Ersatz-Unterbringung gab, als bereits mit dem Abbruch begonnen wurde. Schließlich und in der Not fiel die Wahl auf die alte Schule im Arbeiter-Stadtteil San Francisco, nicht gerade der ideale Sitz für ein Museum mit überregionaler Reputation. Das Gebäude in der Conde Mirasol Straße war ein Provisorium, das jedoch zu einer Dauerlösung werden sollte – der Umgang mit dem Museum sprach Bände, was die Wertschätzung als Kunsteinrichtung anbelangt.
Für den Umbau der Räumlichkeiten sorgte in diesem Fall der Stadt-Architekt Hilario Imaz. Von Beginn an gab es Probleme mit Feuchtigkeit und Regenwasser. Zudem war der Raum deutlich kleiner als vorher, nur etwa die Hälfte stand zur Verfügung. Das Wasserproblem führte schließlich zum Ende des Standortes. Im Jahr 2000 wurden die Ausstellungs-Werke provisorisch in einem Lager deponiert und mit der Suche nach einem neuen Standort begonnen. Der fand sich 2006 in der ehemaligen Kirche Corazón de María, keine 200 Meter vom alten Museum entfernt.
Die Reproduktionen-Sammlung
Von Beginn an waren die Verantwortlichen des Museums stärker an der Qualität der zu reproduzierenden Werke interessiert, als an ihrer Anzahl. Es wurde versucht, Repro-Werke direkt vom British Museum zu erwerben. Der Transport der Stücke, die reproduziert werden sollten, wurde von dem renommierten Geschäftsmann und Politiker Ramón de la Sota finanziert (3).
Gleichzeitig und aufgrund der räumlichen Nähe wurden Werke beim Museum der Schönen Künste in Bilbao angefordert. Danach kamen Arbeiten aus der Madrider Werkstatt von Benito Bertolozzi: “Leda“, “David“ von Verrocchio, “Der Dornauszieher“, “Torso“ von Belvedere, “Der Sklave“, “Torso“ von Subiaco, “Torso“ von Fidias, “Der Gott Apollon“. Später, und ebenfalls aus Madrid, trafen weitere berühmte Werke wie der “Diskuswerfer“ ein und die “Venus von Equino“. Erfolglos wurde versucht, die im Keller des Madrider Reproduktions-Museums eingelagerten Werke zu übernehmen.
Aus ausländischen Museen wie München kamen Werke wie “Herkules“ oder “Der verwundete Krieger“. Aus Berlin der “Hermes“ des Praxiteles. In London wurde das “Relief der verwundeten Löwin“ und “Die drei Parzen“ gekauft. Aus dem Louvre kamen der “Wagenlenker von Delphi“, die “Venus von Milo“ oder “Der Sieg von Samothrake“. Aus den Vatikanischen Museen stammten “Apollo“, “Laokoon und seine Kinder“, sowie ein “Porträt von Demosthenes“. Schritt für Schritt wurde so ein kultureller Schatz gesammelt, ein Kulturerbe aus berühmten Werken.
Aktuell: “20 Körper 20 Künstler“
Auf den drei Etagen des Reproduktions-Museums ist ausreichend Platz, um die Klassiker mit aktuellen Kunstschauen zu bereichern. Die Ausstellung "20 Körper 20 Künstler", die derzeit im Museum in Bilbao zu sehen ist, verbindet die klassische Schönheit der griechischen Antike mit dem Körperbild des 21. Jahrhunderts und regt zur Reflexion über die zeitgenössische Wahrnehmung des menschlichen Körpers an. Eine außergewöhnliche Ausstellung an einem außergewöhnlichen Ort: einer ehemaligen Kirche in Bilbao. (4)
Bereits die vom Schriftsteller Kirmen Uribe im Museum der Schönen Künste Bilbao konzipierte ABC-Ausstellung war ein Bruch mit den Konventionen der Museum-Anordnungen. Uribe stellte die Kunstwerke in den Expo-Räumen schlicht nach Alfabet und Schlagworten zusammen. Nun zeigt das Reproduktions-Museum ebenfalls, dass es auch anders geht. Üblicherweise werden temporären Ausstellungen extra Räume zugewiesen, um Thema oder Autor*innen abzugrenzen. Die aktuelle Ausstellung in San Francisco geht einen anderen Weg. Die zwanzig Beiträge wurden fein säuberlich zwischen die klassischen Ikonen gepackt, paarweise sozusagen. Dass es gelegentlich sogar schwer fällt zu unterschieden, was nun was ist. Der Kurator hat es sogar geschafft, in einzelnen Fällen inhaltliche Verbindungen zwischen Klassik und Moderne herzustellen. Dadurch wird die Werkschau zu einem besonderen Erlebnis: die nackten Hünen und Hüninnen werden zu stummen Zuschauerinnen der inspirierenden Werke der baskischen Kreativen. Kompliment!
Zeitgenössische Wahrnehmung des menschlichen Körpers
Menschliche Körper des 21. Jahrhunderts teilen sich bei der Ausstellung (vom 1.10.2020 bis 29.1.2021, Verlängerung bis März 2021) die Bühne mit Figuren der Antike. Neben der klassischen Schönheit des Praxiteles, der Figur, die den Gott Hermes mit dem Kind Dionysos personifiziert, sind drei starke Frauen präsent, die sich für feministische Ziele engagieren, jeweils einem anderen Schönheitskanon unterworfen. Ihnen gegenüber steht eine originalgetreue Reproduktion eines Teils der Marmorfriese des Athener Parthenons zu sehen, die den Kampf gegen die Giganten darstellt.
Zwei Prothesen aus Stoff mit männlichen und weiblichen Genitalien hängen vor dem Fries und verbergen eine Geschlechts-Umwandlung. Dies ist einer der “Dialoge“ zwischen den aktuellen und den klassischen Werken, die das Museum für künstlerische Reproduktionen in Bilbao zusammengestellt hat und die dem Publikum wenigstens bis März 2021 zugänglich sind.
Das Geschlecht und seine enge Beziehung zum Körper ist eines der zentralen Themen der Wechsel-Ausstellung, die der Kurator Fidel Díez Mesa, Arzt und Kunstliebhaber, in Zusammenarbeit mit einer Sparkassen-Stiftung konzipiert hat. Die Ausstellung mit dem Titel “20 Körper 20 Künstler“ umfasst Kunstwerke von zwanzig zeitgenössischen Künstler*innen, die im Baskenland leben. Die Kreativen vermitteln ihren jeweils eigenen, ganz persönlichen Blick auf ihr jeweiliges Körperverständnis.
Die Gesamtheit der Werke zeigt eine aktuelle, künstlerische Interpretation des zeitgenössischen Bildes vom menschlichen Körper. “Der Dialog, der zwischen den klassischen Skulpturen des Museums und den heutigen Werken ensteht, ist von großer Schönheit, hat eine magische Komponente und ist respektvoll“, erklärt der Kurator.
“Die Ausstellung versteht sich als Annäherung an die Faszination, die der Körper in uns auslöst. Aber es ist nicht die Annäherung über die typischen pseudo-erotischen Bilder, die unseren Alltag überschwemmen und uns in Erregung versetzen sollen. Vielmehr handelt es sich um künstlerische Arbeiten, die zum Nachdenken anregen. Um die Vision heutiger Künstler*innen über den menschlichen Körper, verschiedene Visionen voller Fragen und Mysterien.“ (1)
Sozial-politischer Kontext von Museum und Ausstellung
Das Museum der Reproduktionen ist eines der ältesten Museen der Hauptstadt Bizkaias und liegt im Stadtteil San Francisco. Die Geschichte des Stadtteils als Bergbau-Ort und Geburtsstätte der Arbeiterbewegung ist fundamental für die Geschichte der Stadt. San Francisco ist geprägt von einer ganzen Reihe sozialer Konflikte. Es ist das Barrio Bilbaos mit der größten Polizeipräsenz, mit den meisten Migrant*innen der Stadt und mit einer sichtbaren Armut. Auf den schmalen Gehwegen wird mit allem denkbaren gedealt.
Das Straßenbild scheint von institutioneller Vernachlässigung geprägt, ist jedoch gleichzeitig ein Gentrifizierungs-Objekt, in dem sich in den kommenden Jahren viel verändern wird. Denn “Sanfran“ ist seit einigen Jahren auch der Stadtteil der Hipster, Neo-Yuppies und Künstler*innen: Galerien, Architekturbüros, Co-Working, Vintage-Läden, Kunsthandwerk, Mode-Bars und exotische Restaurants sind der Ausdruck davon. Seit 170 Jahren ist das Viertel auch für die Prostitution bekannt und berüchtigt: Arbeiter und Soldaten haben früher für entsprechende Nachfrage gesorgt. Heute sind es Stundenhotels und Sexbars, die Frauen, die dort ihre Körper anbieten und ausgebeutet werden, stammen aus Osteuropa, Lateinamerika und Afrika.
Kunst und Gentrifizierung
“Ich wollte Räume zugänglich machen, die normalerweise nicht genutzt werden, junge Leute dazu bringen, das Museum zu besuchen, und auch die Kultur in der Nachbarschaft fördern. San Francicso muss nicht unbedingt ein Stadtviertel sein, das nur für seine üblichen Konflikte bekannt ist“, betont Díez Mesa.(1)
Um diese Absicht zu unterstreichen, wird die Ausstellung von den Künstler*innen Mariam Puertas und Andrea Abáigar mit einem fotografischen Schnappschuss eröffnet, der Teil des unvollendeten Fotoprojekts ist mit dem Titel “Die Zerstörung des Phoenix“. Die Fotografie zeigt drei Frauen, die das Leben in der Nachbarschaft widerspiegeln. “Die Ausstellung sollte mit etwas Überraschendem beginnen. Es sind alltägliche Frauen, die den Schönheitskanon satt haben, sie scheinen gewöhnlich zu sein, aber das sind sie nicht“, sagt der Kurator. “Gleichzeitig soll die Öffentlichkeit auch zum Nachdenken darüber angeregt werden, wer wir sind, indem wir uns auf das körperliche Begehren konzentrieren.“
Gemeinsam haben die Werke den menschlichen Körper als Ausgangspunkt. Mit dem Anspruch, diese Künstler*innen zu unterstützen und den kulturellen Sektor in Covid-Krisenzeiten zu fördern, wurde eine Ausstellung zusammengestellt, die von unterschiedlichen künstlerischen Formaten geprägt ist: audio-visuelle Arbeiten, Skulpturen, Fotografie, Gemälde und Installationen. Die meisten ausgestellten Körper sind weiblich, vielleicht weil vierzehn der zwanzig Werke von Frauen hergestellt wurden.
Beispiel: Spekulum
Alle regen dazu an, “über die zeitgenössische Wahrnehmung des menschlichen Körpers nachzudenken. Eine Wahrnehmung, die ohne die starke Präsenz der antiken Marmor-Modelle sicherlich ziemlich anders ausfallen würde. Es ist wichtig, das Werk dieser jungen Künstler*innen sichtbar zu machen. Sie haben immer weniger Galerien und Möglichkeiten, ihre Arbeiten zu zeigen“, sagt Díez Mesa.
Estíbaliz Sádaba Murguia (1963) will mit ihrem Werk “Con mi especulum soy fuerte, yo puedo luchar“ (Mit meinem Spekulum bin ich stark, ich kann kämpfen) eine Arbeit vorstellen, “die aus dem Studium und der Dekonstruktion dessen, was uns schon immer als weibliche Archetypen verkauft wurde, zur Schaffung einer Strategie gegen den in der Gesellschaft vorherrschenden Diskurs über Frauen beiträgt.“ (4) Ein interessanter feministischer Diskurs, den sicher 98% der Bevölkerung von San Francisco nicht nachvollziehen kann.
Textil-Geschlechter
Die Textilskulptur von Anca Petrei (1993), die sie für die Reihe “Des-Género“(ungefähr: Gegen Geschlechterzuweisung) entwickelt hat, besteht aus den äußeren männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen. An Schnüren aufgehängt, baumeln eine Vulva und ein Penis aus Stoff von der Decke. Mit dem Werk erinnert die Künstlerin an die Macht über den Körper, während sie gleichzeitig die Schönheit der Vielfalt sowie die Schönheit der nicht der Norm entsprechenden Körper hervorhebt.
Sie lädt zum Nachdenken über die Stereotypen und die auferlegten Schönheitsideale ein, darüber, was es bedeutet, aus der Symbolik der körperlichen Erscheinungsform abgeleitet, ein Mann oder eine Frau zu sein. Oder eben nicht. Darüber hinaus können die beiden Gegenstände als Protese betrachtet werden, um eine Geschlechts-Umwandlung zu simulieren. Sie sind aus roher Baumwolle gefertigt, in der Absicht, eine neutrale Ästhetik zu demonstrieren, die sich am früheren Design von Unterwäsche, Dessous und Korsetts orientiert.
“This is not my body”
Das Werk “This is not my body” von Ixone Sádaba ist ein chromogener (Farbstoff bildender) Druck auf Hahnemühle-Baumwollpapier, ergänzt durch Glas, Stahl, Marmor, Buchenholz, Gummi und Schaumstoff. Das Werk kann als Metapher für Enteignung, Zerstörung und totalen Nihilismus dienen, denen der menschliche Körper heutzutage unterworfen ist. Im Vordergrund steht dabei das existentielle Recht, nicht zu sein. Die formale Dekonstruktion der Fotografie und ihrer Materialien bringt uns einer Vision von Weiblichkeit als einem Zustand der Negativität näher, der außerhalb der hermetisch konstruierten Männerwelt existiert.
“Autoretrato con planta“ (Selbstporträt mit Pflanze) ist ein Ölgemälde von Elena Goñi (1968). Das Bild zeigt ihre offenen Beine auf einem Laken. “Elena malte das Bild, als sie im Bett lag und unter Migräne litt. Sie war lange bettlägerig, und ihre Beine waren das, was sie jeden Tag sah“, sagt der Kurator bei einer Führung.
Unsichtbar
“Invisible“ (Unsichtbar) stellt eine menschliche Wirbelsäule dar, angefertigt aus schwarzem Tarlatan, einem altertümlichem Stoff, dünn und durchsichtig, dem Tüll ähnlich. Die Künstlerin María Rubio Tortosa beschreibt ihr Werk folgendermaßen: “Mit dieser Arbeit versuche ich, die abstrakte Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren zu materialisieren, die im Moment des Prozesses entsteht, in dem wir uns dessen bewusst sind, dass das, was den Körper formt, zerbrochen wurde. Dadurch entstehen Risse, in denen die Sinnlichkeit des Verborgenen sich auflöst und die Zerbrechlichkeit offensichtlich wird.“ (4)
Zigor Barayazarra stellt mit seinem Werk “The lunch project“ mehrere Skulpturen unterschiedlicher Größe aus Brot-Teig aus. Er erklärt sein Werk folgendermaßen: “Ich begann mit Brot-Teig zu arbeiten, als ich mich um ein Stipendium in Rom bewerben wollte, das letztlich keinen Zuschlag erhielt. Meine Arbeiten dienten am Ende den Vögeln als Nahrung. Jedes Mal, wenn ich dieses Projekt erneut vorstelle, beginne ich wieder damit, einen Teig aus Mehl, Salz, Hefe und Wasser herzustellen. Ich arbeite mit meinen Händen und forme die Armut, wobei es nicht nur eine einzige Form von Armut gibt. Eine Armut für jeden Bissen, der den Hunger nimmt. Nahrung ist ein grundlegendes Lebensrecht. Ihr Geruch ist verführerisch und löst sich in der Skulptur auf.“
Gabriels Verwandlung
Mar Sáez präsentiert ein knapp dreiminütiges Video mit dem Namen “Gabriel, 2012-2018“. Dabei handelt es sich um das Porträt von Gabriels Verwandlung über einen Zeitraum von sechs Jahren. Die Fotografien, die seine physische Veränderung dokumentieren, werden begleitet von Landschaftsbildern, die diese Verwandlung miterlebten. Eingeblendete Sätze helfen dabei, die Entwicklung seiner Gefühle zu verstehen. DAzu Szenen aus Gabriels Kindheit, als er noch auf den Namen Isabel hörte.
Bei der Arbeit “Bom Bom. La causa de mi deseo“ von Eduardo Sourrouille handelt es sich um eine Video-Installation, bei der zwei Männer eine Art Tanz aufführen. Der eine hat ein schwarz gefärbtes Gesicht und überträgt die schwarze Farbe mit seiner Zunge auf das Gesicht des anderen. Eine Choreographie, die einen Tanz der Beziehungen entwickelt. Botschaft: und die jeweilige Identität wird durch gegenseitige Verunreinigung aufgehoben. Durch diese Kontamination wird der eine zum anderen. Dahinter verbirgt sich der Verlust des eigenen Körpers, um sich der Liebe hinzugeben, wodurch wiederum eine mobile, sich in Veränderung befindliche Identität entsteht.
Der Kurator Fidel Díez Mesa ist Zahnarzt. Vielleicht hat ihn “seine zelluläre Vision des Körpers“ dazu bewogen, diese thematische Ausstellung zu organisieren. Sie schließt ab mit der Arbeit “Mastektomia“(Mastektomie, operative Brustentfernung) von Jessica Llorente (1984). Hier werden “verstorbene Subjekte“ dargestellt, Momentaufnahmen verschiedener Organe, die unseren Blick ins Innere unseres Körpers lenken. “Las entrañas son entrañables“ bedeutet in deutscher Übersetzung “die Eingeweide sind liebenswert“. Damit endet der Weg durch die Ausstellung mit dem “gleichen Ende wie ein Menschenleben“, so der Kurator abschließend.
Das Museum finden
Wer die Altstadt Bilbaos Richtung Fluss verlässt und sich rechts neben der Markthalle über die Fußgängerbrücke bewegt, ist auf dem besten Weg zum Reproduktions-Museum Bilbao. Die Ex-Kirche Corazón de María (Marias Herz) neben dem gleichnamigen Platz beherbergt eine weitere Besonderheit. Hier stand im Mittelalter ein Franziskaner-Kloster, daher der Name des Stadtteils, der bis vor 130 Jahren gar nicht zu Bilbao gehörte sondern zum eigenständigen Abando. Bei der französischen Besetzung nach 1800 diente es als Kaserne, wurde abgerissen, um eine neue Kaserne zu erleben, in diesem Fall von spanischen Militärs. In den 1950ern wurde sie ersetzt durch die heute sichtbaren Wohnblocks. Als die Stadtverwaltung vor 20 Jahren eine Tiefgarage bauen lassen wollte, traten die Reste des Klosters zu Tage. Der Platz wurde ausgehoben, wieder überdacht und mit einer Holz-Glas-Kuppel überdeckt, die Blicke freigibt auf die Klosterruine. Bei Voranmeldung kann diese besichtigt werden.
Die Ausstellung
... sollte eigentlich bis 29. Januar 2021 zu sehen sein, nicht ganz überraschend und dankenswerterweise wurde sie wegen der Pandemie bis März verlängert. Eine Fotoserie zeigt Eindrücke der ausgestellten und der permanenten Werke (LINK). Wer sich an einem gewöhnlichen Arbeitstag ins Museum verirrt, hat beste Chancen, die Objekte in aller Ruhe und fast allein besichtigen zu können. Denn auch 93 Jahre nach Eröffnung ist noch nicht ausreichend bekannt, was für ein (fast einmaliger) Schatz sich im Arbeiterviertel verbirgt. Vorsicht nur bei Schulklassen!
ANMERKUNGEN:
(1) Zitate aus “La belleza de la antigua Grecia y el siglo XXI llega a Bilbao“ (Die Schönheit des alten Griechenlands und das 21. Jahrhundert kommen nach Bilbao), Autorin: Yaiza Pozo, 15.11.2020 in der baskischen Tageszeitung Deia. (LINK)
(2) Weitere Informationsquelle: “Un oasis de la cultura en escayola” (Ein Oase der Kultur aus Gips), Tageszeitung Deia, 2020-01-05) (LINK)
(3) Ramón de la Sota y Llano (1857-1936) war Rechtsanwalt, Unternehmer und Politiker. Er war einer der Gründer der Euskalduna-Werft im Zentrum Bilbaos (wo heute das Guggenheim-Museum steht). Als Politiker war er Provinz-Präsident von Bizkaia, sowie Mitglied und Sponsor der Baskisch Nationalistischen Partei (PNV). Drei Jahre nach seinem Tod 1936 wurde er von den Franquisten wegen “Inspiration zum Aufstand“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, was dem Regime erlaubte, den Besitz der Familie zu konfiszieren.
(4) Übersetzung der Werkbeschreibungen aus dem Ausstellungskatalog “20 Gorputz 20 Artista“ (20 Körper 20 Künstlerinnen), Reproduktions-Museum Bilbao – San Francisco.
ABBILDUNGEN:
(*) Repro-Museum Bilbo (Foto Archiv Txeng)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-01-12)